Offener Brief des Bündnisses für „Barrierefreiheit“

Twitter-Beitrag von Daniela HarschSehr geehrte Frau #bürgermeisterin,

seit wir über diesen Tweet von Ihnen gestolpert sind fragen wir uns, wie Sie sich wohl gefühlt haben mögen, in dieser von Ihnen beschriebenen Situation vor dem Tübinger Rathaus, an diesem ansonsten sonnigen Tag im Frühling dieses Jahres?

Vermutlich haben Sie sich geärgert, fühlten sich nicht ausreichend wahrgenommen, in Ihrem Anliegen nicht verstanden; vielleicht sogar als Mensch gering geschätzt.

Möglicherweise waren Sie zunächst einfach perplex ob der Ignoranz Ihres Gegenübers auf der anderen Seite der Glastür; dann vielleicht auch gekränkt und beschämt (es könnte Sie ja jemand sehen, wie sie da hilflos vor der Tür mit zwei vollen Händen in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel wühlen, während gleichzeitig vielleicht noch ein Teil des Wochenmarkteinkaufs droht, sich selbstständig zu machen und davon zu kullern); und vielleicht waren Sie sogar ein ganz klein wenig zornig – in dieser Situation, in der Sie doch so ganz offensichtlich, schwer beladen und in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt, darauf angewiesen gewesen wären, dass jemand Ihren Unterstützungsbedarf sieht, und ihnen einfach mal „g’schwind“ die Tür öffnet?

Wir sind sicher, bürger(-meisterinnen-)freundlich behandelt haben Sie sich in dieser Situation jedenfalls nicht gefühlt. Und hätte Ihr Gegenüber hinter der verschlossenen Glastür in dieser Situation auch noch von innen einen Keil vor die Tür geschoben und Ihnen mit desinteressierter Miene geraten, aus Gründen der amtsinternen Effizienz doch bitte zunächst mal eine Mail an rathauspforte@tuebingen.de zu schreiben, um einen Termin für die Öffnung besagter veschlossener Tür zu vereinbaren – wir sind sicher, dann wären Sie (zurecht, und Sie hätten unser vollstes Verständnis dafür gehabt) explodiert.

Liebe Frau Harsch, vergleichbare Erfahrungen machen schon seit März dieses Jahres viele Menschen in Tübingen, die – wie Sie in der von Ihnen beschriebenen Situation – versuchen müssen, einfach ihre Angelegenheiten in den Räumlichkeiten der Tübinger Stadtverwaltung, im Bürgeramt, Ausländeramt usw. zu regeln.

Genau wie damals Sie, liebe Frau Harsch, stehen diese Menschen seit März dieses Jahres vor einer verschlossenen Tür, und aus unterschiedlichen Gründen belastet, kommen sie nicht so einfach an den sinnbildlichen Schlüssel den es bräuchte, um „effizient“ und problemlos durch diese Tür hindurch zu gelangen; genau wie damals Sie sind diese Menschen mit der Aussage konfrontiert: „Man kann hier ja nicht jeden reinlassen“ – jedenfalls nicht einfach „einfach so“, und ohne 1-2 Monate vorher und gezwungenermaßen online einen Termin vereinbart zu haben.

Liebe Frau Harsch, als promovierte Sozialdemokratin, Bergsteigerin und mit nach eigenem Bekunden beruflichem Background in der sozialen Arbeit schaffen Sie – im Hinblick auf den von Ihnen als dauerhaft geplanten Terminvereinbarungszwang im Bürgeramt und für weitere städtische Behörden – vielleicht die folgenden gedanklichen und emotionalen Transferleistungen, von der von Ihnen beschriebenen Situation:

– zu der Situation der 80-jährigen gehbehinderten Tübingerin, die zwar noch nie in ihrem Leben „online“ war, aber bisher (an den Tagen, an denen es ihr gesundheitlich gut ging) spontan ins Bürgeramt kommen konnte; war ihr etwas unklar konnte sie – anders als jetzt – dort die zuständigen Mitarbeiter*innen direkt ansprechen und ihr Anliegen selbst und ohne Unterstützung Dritter klären,

– zu der Situation des (funktionalen) Analphabeten aus Tübingen, der zwar auf einem Online-Kalender herumklicken kann, aber weder versteht welchen der Auswahltermine er dann zugeteilt bekommt, noch sinnerfassend lesen kann, welche Dokumente er dann zu einem Termin mitbringen müsste, und der eigentlich auf ein persönliches Erstgespräch und begleitende Beratung durch die Mitarbeiter*innen des Amts angewiesen wäre,

– zu der Situation der alleinerziehenden Mutter ohne soziales oder familiäres Netzwerk in Tübingen, die schon seit Wochen nicht mehr durchgeschlafen hat und – wie vielleicht auch Sie in der von Ihnen beschriebenen Sequenz, unter Termindruck – einfach nur so schnell wie möglich ins Amt rein, nach kurzer Wartezeit ihre Angelegenheiten regeln und anschließend wieder raus will, und die nicht planen kann, ob heute in einem Monat das Kind vielleicht krank ist und sie dann erneut einen Termin beantragen muss, auf den sie dann wieder 1-2 Monate warten darf,

– zu der Situation des in Tübingen lebenden Geflüchteten, der regelmäßig die Ausländerbehörde im Bürgeramt aufsuchen muss und der zwar bisher im direkten Gespräch und im Augenkontakt mit den sachkundingen Mitarbeiter*innen dort seine ausländerrechtlichen Angelegenheiten halbwegs selbständig regeln konnte, sprachlich aber noch lange nicht soweit ist um seine Anliegen und einen entsprechenden Termin dafür vorab ohne fremde Hilfe online, telefonisch oder schriftlich per Mail klären zu können (was auch, nebenbei, schon daran scheitert, dass die ABH von allen Tübinger Behörden schon seit Monaten am schlechtesten bis gar nicht telefonisch erreichbar ist und die Terminvereinbarung dort grundsätzlich vieler vergeblicher Versuche bedarf),

– zu der Situation des Sozialhilfeempfängers aus Tübingen, dessen Anspruch auf Unterstützung erst ab dem Moment der faktischen Antragstellung läuft und der nun 1-2 Monate auf einen Termin warten muss und sich in der Zwischenzeit nicht nur fragt, wie er die nächsten 1-2 Monate finanziell überstehen soll, sondern auch, wem seine prekäre Lebenssituation jetzt eigentlich noch alles bekannt wird, nachdem die Stadt Tübingen ihr komplettes Online-Terminbuchungssystem an eine privates Unternehmen „outgesourced“ hat

– zu der Situation der älteren Dame, die stundenlang um das verschlossene Bürgeramt herum irrt, weil sie sich erkundigen möchte wie sie eine Mütterrente beantragen kann, und die es sichtlich beschämt, zunächst Passant*innen und schließlich eine nur zufällig herauskommende städtische Angestellte um Hilfe bitten zu müssen, nur um zu erfahren dass die zuständige Sachbearbeiterin leider nur halbtags arbeite und außerdem aktuell erkrankt sei weswegen ohnehin kein Termin vereinbart werden könne,

– zu der Situation der selbstständigen StartUp-Unternehmerin aus Tübingen, die eigentlich jederzeit flexibel auf die Wünsche ihrer Kundschaft reagieren muss, die darauf angewiesen ist, die wenigen sich spontan auftuenden Zeitfenster im stressigen Alltag für Behördengänge zu nutzen und überhaupt nicht absehen kann ob sie in 1-2 Monaten einen Termin auf dem Bürgeramt wahrnehmen kann,

– zu der Situation der ehrenamtlichen Integrationsbegleiterin des oben genannten Geflüchteten, die in ihrer knapp bemessenen Freizeit nun, statt mit diesem und seiner Familie die deutsche Sprache zu üben oder herbstliche Ausflüge in den Schönbuch zu machen, Stunden am Telefon verbringen darf, um dem Besetztzeichen zuzuhören das man in 99% aller Versuche, die Ausländerbehörde Montags bis Donnerstags von 14 bis 16 Uhr zu erreichen, zu hören bekommt,

– zu der Situation des hauptamtlichen Sozialarbeiters in einer Tübinger Einrichtung, der schon zuvor „Oberkante“ war in Bezug auf das Zeitbudget, dass er für jede*n Einzelnen seiner Klient*innen zur Verfügung hat, und der nun ein Mehrfaches des bisherigen Zeitaufwands aufbringen muss, um für alle seine Klient*innen Behördengänge bei der Stadt Tübingen aufwendig zu terminieren und vorzubereiten, statt sie wie vorher in einfachen Worten zu instruieren und einfach vorbeizuschicken.

Liebe Frau Harsch, es gibt all diese und noch viele weitere Menschen in unserer Stadt, in ähnlichen oder auch noch ganz anderen erschwerten Lebensumständen, für die ein grundsätzlicher Zwang zur vorherigen Terminvereinbarung im Bürgeramt keine gute Lösung darstellt, die ihrer jeweiligen Alltags- oder Arbeitssituation gerecht würde.

Diese Menschen müssen – um im Bilde zu bleiben – dauerhaft mit zwei vollen Händen und so manchem anderen Päckchen durchs Leben gehen. An den von Ihnen geforderten Schlüssel namens „Online-Terminvereinbarung“ kommen diese Menschen schlicht nicht ran: mit zwei vollen Händen kann man nun mal nicht allzutief in die Hosentasche greifen, und bei manchen ist dieser Schlüssel vielleicht auch schon durch ein Loch in der Hosentasche entschwunden, falls sie überhaupt jemals einen entsprechenden Schlüssel besessen haben. Oder es fehlt ihnen – um weiterhin im Bild zu bleiben – schlicht an der nun angeblich erforderlichen Schlüsselkompetenz.

Liebe Frau Hashtag Bürgermeisterin von Hashtag Tübingen: es gehört zum Kern des öffentlichen Arbeitsauftrags der Tübinger Stadtverwaltung, auch allen diesen in Tübingen lebenden Menschen einen möglichst selbstbestimmten und selbst gangbaren Zugang zu den städtischen Bürgerdiensten, nach ihren Bedarfen und Fähigkeiten, und einschließlich notwendiger und angemessener Beratung durch die zuständigen Sachbearbeiter*innen der städtischen Ämter und Behörden, zu gewährleisten – und zwar von Beginn des jeweiligen Verwaltungsvorgangs an.

Diese Aufgabe können Sie auch nicht einfach ungefragt an ehren- und hauptamtlich Engagierte und soziale Institutionen auslagern, sondern sie liegt originär in Ihrer Verantwortlichkeit.

Eventuell mal ein halbes Stündchen im Publikumsbereich des Bürgeramts, Ausländeramts etc. zu warten, bis man an einem der Schalter Platz nehmen und sein Anliegen vorbringen und sich ggf. beraten lassen kann, war und ist für die allermeisten dieser Menschen hinnehmbar und machbar. Und wenn mal ein Dokument fehlen sollte geht man halt zeitnah nochmal hin.

So wie jetzt oftmals bereits an der Terminvereinbarung zu scheitern, zu jedem noch so banalen Verwaltungsanlass die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen zu müssen und dann noch wochen- bis monatelang auf einen Termin warten zu müssen, das ist für all diese Menschen auf Dauer nicht hinnehmbar, und führt für sie zu strukturellen und nicht zu rechtfertigenden Benachteiligungen und neuen Barrieren.

Mit einer Stadtverwaltung konfrontiert zu sein, die sich ausschließlich auf „Effizienz“ versteift und die sich nicht auf ihre Bedürfnisse einlassen will führt bei all diesen Menschen auch zu den gleichen Gefühlen wie bei Ihnen, als Sie damals, am 23. April 2020, schwer beladen vor verschlossenen Rathaustüren standen: zu Beschämung, zu Kränkung, zu Abhängigkeit von Anderen, zu Ärger, zu Unverständnis, zu Zorn, zu dem Gefühl nicht mehr als gleichberechtigt wahrgenommen zu werden und nicht „wichtig genug“ zu sein – allerdings nicht nur in einem kurzen Moment ihres Lebens, sondern dauerhaft.

Natürlich muss sich die Stadtverwaltung angesichts der Herausforderung durch die aktuelle Corona-Situation schlaue Lösungen einfallen lassen, um ihrer Verpflichtung zum Infektionsschutz für Ihre Mitarbeiter*innen und Besucher*innen gerecht zu werden. Die daraus entstehenden Einschränkungen müssen aber eine zeitlich begrenzte Ausnahme bleiben, und dürfen nicht die neue Regel werden. Und by the way: ja, es gibt Alternativen zur kompletten Aussperrung der „Laufkundschaft“, um auch in der aktuellen Situation einen sicheren und inklusiven Publikumsverkehr im Bürgeramt zu ermöglichen.

Ihren Plan, die vormals freie und spontan mögliche Zugänglichkeit zu den städtischen Bürgerdiensten auch nach dem Ende der durch die aktuelle Corona-Situation bedingten und sicherlich auch teilweise sinnvollen und notwendigen Maßnahmen dauerhaft wegfallen zu lassen, und künftig überhaupt keine zu den Online-Diensten zumindest gleichwertige Zugangsmöglichkeit für die „Laufkundschaft“ mehr anzubieten, sollten Sie deshalb dringend im Sinne einer „Stadt und Stadtverwaltung für Alle“ nochmals überdenken und entsprechend revidieren.

Mit freundlichen Grüßen,

die Initiativ-Gruppe der Kundgebung
„Barrierefrei statt bürger*innen-fern!“

Quelle: https://keep.tuebingen.social/barrierefreiheit