Resolution zur Reform des Sanktionsrechts im SGB II

Die Mitgliederversammlung des Tübinger Arbeitslosen-Treffs hat am Freitag, dem 13. Dezember 2019 folgende
Resolution zur Reform des Sanktionsrechts im SGB II verabschiedet:

Zumindest in seiner grundsätzlichen Stoßrichtung begrüßt der TAT e.V. das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Sanktionsrecht im SGB II vom 05. November 2019 (1BvL 7/16). Zwar hat der TAT e.V. ein stärkeres Urteil über die im SGB II vorgesehenen Sanktionen gewünscht, sieht sich aber durch das Verbot von hohen und von unangemessenen Kürzungen bestätigt: Das Arbeitslosengeld II ist als existenzsicherndes Sozialeinkommen Ausdruck der für alle Menschen zu gewährleistenden der Menschenwürde und deshalb ein Menschenrecht aller Menschen und eben insbesondere derer, die darauf aktuell jeweils angewiesen sind. Der TAT e.V. begrüßt weiterhin, dass die verfassungswidrigen Regelungen unverzüglich abgestellt und damit das Sanktionsrecht im SGB II ausgesetzt wurde – und dies auch für die unter 25-Jährigen, obgleich das Bundesverfassungsgericht über das sie betreffende Sanktionsrecht nicht geurteilt hatte.

Um das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen, muss das SGB II reformiert werden. Der TAT e.V. fordert die lokalen Bundestagsabgeordneten sowie die auf bundespolitischer Ebene aktiven Politiker*innen aus Tübingen auf, sich für eine Neuregelung des SGB II einzusetzen, bei dem folgende Maximen gewährleistet werden:

  • Das menschenwürdige Existenzminimum ist ein allgemeines Menschenrecht. Es ist durch das Grundgesetz geschützt und vom Staat zu gewährleisten. Sanktionsregelungen, die sich auf das ALG II beziehen, sind im SGB II zu streichen. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht einen kleinen Spielraum für Sanktionen gelassen hat, darf es keine Kürzungen am Existenzminimum geben. In diesem Zusammenhang will der TAT e.V. aber auch in Erinnerung rufen, dass das ALG II in der gegenwärtigen Höhe keine gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und daher das Existenzminimum nicht ausreichend gewährleistet.
  • Beschäftigungsförderung ist eine notwendige Aufgabe der Jobcenter. Sie muss auf der Grundlage von Freiwilligkeit und von Respekt erfolgen. Soweit die Jobcenter mit Anreizstrukturen arbeiten sollen können, sind dafür positive Anreizstrukturen zu schaffen – und die negativen, also Sanktionen, zu streichen. Der Einsatz auch von positiven Anreizen muss dem jeweils konkreten Fall angemessen sein, weswegen jede Form von automatischen Vollzug ausgeschlossen werden muss.
  • Beschäftigungsförderung hat die Autonomie der Geförderten auch in der Förderung zu gewährleisten. Entscheidungen von Erwerbslosen etwa in Bezug auf die Annahme von Fördermaßnahmen oder von Erwerbsarbeit sind grundsätzlich als Ausdruck ihrer berechtigten und begründeten Interessen anzuerkennen. Nicht die Erwerbslosen haben an den ihnen vorgeschlagenen Fördermaßnahmen und Beschäftigungsmöglichkeiten zu »lernen«, sondern die Fördermaßnahmen und Beschäftigungsangebote an deren Zustimmung bzw. Ablehnung. In diesem Sinn will der TAT e.V. die Erfahrung vieler geförderter Menschen in Erinnerung rufen: Viele der vom Jobcenter angebotenen Maßnahmen qualifizieren, wenn überhaupt, nur für prekäre Beschäftigung, die den davon Betroffenen keine Beschäftigungsperspektivegeben können. Daher hält es der TAT e.V. für notwendig, dass auch ALG II-Bezieher*innen ohne Beschränkungen Qualifikationen in anerkannten Ausbildungsberufen, also Ausbildungen und Umschulungen, wahrnehmen können.
  • Von Arbeitslosigkeit betroffene oder bedrohte Jugendliche und junge Erwachsene bedürfen der Beschäftigungsförderung in besonderem Maße. Von daher sind in diesem Bereich gesonderte Anstrengungen und entsprechende Ressourcen bei den Jobcentern notwendig. Bei der rechtlichen Regelung darf deswegen aber kein Sonderrecht bestehen. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen können lediglich besondere Ansprüche an die Beschäftigungsförderung sowie gegebenenfalls besondere Anreizstrukturen geschaffen werden.

Im Alltag der Erwerbslosen in Tübingen und in der Beratungspraxis des Arbeitslosen-Treffs waren Leistungskürzungen zu Sanktionszwecken in der Vergangenheit nicht sonderlich relevant. Relevant war hingegen die dem Jobcenter vorgeschriebene, ständige Bedrohung mit Leistungskürzungen. Der permanente Druck auf ALG II-Bezieher*innen ließ keine selbständigen und freien Entscheidungen zu. Diese Drohungen gehören – so hofft der TAT e.V. – der Vergangenheit an. Relevant waren auch die Einstellung von Leistungen sowie die Reduzierung von ergänzenden Leistungen, übernommene Mieten oder Nebenkosten, – und dies aus dem Grund, dass Unterlagen und Nachweise nicht oder nicht rechtzeitig eingereicht wurden. Nicht immer lagen die Ursachen dafür bei den Betroffenen; lagen sie bei den Betroffenen, dann hatte dies häufig mit den sie verstörenden Lebensumständen zu tun. Zwar wurden und werden die Leistungen in der Regel rückwirkend in voller Höhe ausgezahlt. Die vorläufige Einstellung von Leistungen führte und führt jedoch dazu, dass die davon Betroffenen von heute auf morgen ohne Einkommen sind und »mit nichts« ihr Leben führen müssen.

  • Auch in den Fällen unzureichender oder fehlender Nachweise gilt, dass die betroffenen Menschen einen Rechtsanspruch auf ein existenzsichernde Grundeinkommen haben und dass deshalb ihr ALG II bzw. übernommenen Miete und Nebenkosten nicht eingestellt werden dürfen. Eine Einstellung dieser Leistungen darf nur dann zulässig sein, wenn das Jobcenter belastbare Indizien für die missbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen hat. In diesem Sinne ist die Nachweispflicht von denen, die auf das ALG II angewiesen sind, auf die Jobcenter umzulegen.